U n s e r E x p e r t e f ü r S i t z m ö b e l SVEN LAPP Geschäftsführer von pro office in der Martinistraße j a z u K a d u a C l i : o t o F Fünf Fragen an: SVEN LAPP Herr Lapp, wie wird ein Stuhl zum Designklassiker? Sven Lapp: Natürlich wird ein Stuhl erst einmal durch seinen Entwurf zum Klassiker. Der Entwurf selbst sollte etwas noch nicht Dagewesenes, etwas Neues bieten. Er kann mit vertrauten Formen spielen. Diese sollten dann aber neu interpretiert sein, neu zusammengefügt sein. Es gibt zum Beispiel Stuhlentwürfe, die über einen ganz langen Zeitraum in Holz ausgeführt wurden und dann in Kunststoff oder in Aluminium – also in einem anderen Werkstoff – gefertigt werden. Alleine das kann schon die gewohnte Form in ein vollkommen anderes, neues Licht rücken. Wichtig ist in diesem Kontext, dass das Neue auch funktioniert, das heißt, das Schöne muss auf das Funktionelle treffen. Erst die Funktionalität macht ein Produkt zum Gebrauchsobjekt und erst dann wird es richtig gut. Ohne die Funktionalität wäre der Entwurf nur eine intellektuelle Auseinandersetzung mit Design. Entscheidend für einen Klassiker ist außerdem die Zeit, in der er entsteht – also der gesellschaftliche und kulturelle Hintergrund. Das lässt sich sehr gut am ältesten Serien- stuhl der Welt, dem 214 von Thonet in Frankenberg er- klären. Der Stuhl, damals 14 genannt, konnte zu einem unfassbar guten Preis angeboten werden. Zwar war der Preis sehr hoch, aber Stühle waren zu dieser Zeit, also in der Mitte des 19. Jahrhunderts, immer Einzelanfertigungen und nur Fürsten und sehr vermögenden Menschen vorbehalten. Salopp gesagt, es gab nur hop oder top. Da waren die Fürstenstühle mit ihren schönen Schnitze- reien, die hervorragend gepolstert und bezogen waren, und da waren die plumpen selbst gemachten Produkte, die in Dorfgemeinschaften und kleineren Städten genutzt wurden. Letztere wurden häufig von Laien hergestellt – nur im besten Falle vom örtlichen Tischler. Dazwischen gab es tatsächlich nichts – ganz anders, als wir es heute kennen. Der zeitliche Hintergrund hat den 214 damit so besonders gemacht und für enorme Alleinstellungs- merkmale gesorgt. Und auch die wirtschaftliche Seite muss bei einem Klassiker stimmen. Der Stuhl muss zu einem adä- quaten Preis käuflich zu erwerben sein. Ansonsten schafft es ein Produkt niemals, eine breite Masse für sich zu begeistern. Es muss die reelle Chance bestehen, dieses Produkt sein Eigen nennen zu können. Zuletzt ist natürlich auch ein Konsens nötig. Ein Klassiker wird erst dann zu einem Klassiker, wenn eine relativ große Bandbreite an Menschen der Überzeugung ist, dass dieser Entwurf gelungen ist. Es ist wichtig, dass ein Produkt aus vielen Blickwinkeln als schön, besonders und ausgefallen emp- 102 OBERNEULAND „Ein Klassiker wird erst dann zum Klassiker, wenn er relativ vielen vollkommen unterschiedlichen Menschen gefällt.“ funden wird – und das von Nutzern ohne und mit Design- hintergrund. Bei Laien wie auch bei Fachleuten sollte es ein hohes Maß an Akzeptanz geben, denn sonst bleibt es auch hier nur bei dem intellektuellen Produkt, das nie jemanden erreichen würde, der einfach nur aus dem Bauch heraus entscheidet. Nun gibt es heute ja eine relativ große Anzahl von Stühlen, die man zu den Klassikern zählt. Auch wenn die Frage sicherlich schwierig sein wird – welche drei Stühle sind für Sie die wichtigsten Klassiker und warum? Sven Lapp: (lacht) Ja, das ist wirklich eine sehr harte Einschränkung. Als Erstes ist es für mich der schon erwähnte 214 von Thonet. Das, was diesen Stuhl so faszinierend macht, ist seine unfassbare Verbreitung. Schon um 1900 ist der Stuhl über eine Million Mal verkauft worden. Er erfüllt wirklich alle Aspekte, die ich eben beschrieben habe. Dieser Stuhl war überall auf der Welt immer wieder zu sehen: von Indien über Mosambik bis Spitzbergen. Winston Churchill saß auf diesem Stuhl, ebenso Charlie Chaplin und Liza Minnelli. Platz zwei ist ohne jeden Zweifel ein Freischwinger. Ein Freischwinger ist ja ein hinterbeinloser Stuhl – so lautet die Designbeschreibung. Das klingt zwar trocken, be- schreibt es aber dennoch gut. Bis dahin hatten Stühle vier Beine, vielleicht auch mal mehr, vielleicht auch mal weniger. Aber dass ein Stuhl ohne Hinterbeine funktio- niert, das begann erst mit den Entwürfen mit Stahlrohr Anfang der 1920er Jahre – vor allem in der Auseinander- setzung im Bauhaus. Ziel der Bauhaus-Gestalter war ja, ästhetische Schönheit mit industrieller Herstellung zu vereinen. Die Verknüpfung von Kunst und Industrie hat zum Einsatz völlig neuer Materialien geführt – dazu gehört eben auch Stahlrohr. Die Bauhaus-Designer wie Mart Stam, Marcel Breuer und Ludwig Mies van der Rohe haben eine große Anzahl an teilweise schrillen Entwürfen für hinterbeinlose Stühle gemacht. Davon sind die meisten wieder verworfen worden, weil sie in der technischen Umsetzung nicht funktioniert haben. Geblieben ist ein Portfolio von sechs bis sieben Modellen – gefertigt von Thonet. Weltweit hat der Freischwinger dann aber einen Siegeszug erfahren. Ganz viel Möbeldesigner sind auf diesen Zug aufge- sprungen und haben in den folgenden 60 bis 70 Jahren eigene Entwürfe geliefert. So ist ein Freischwinger heute aus dem Stuhlportfolio nicht mehr wegzudenken. Des- halb ist mein Stuhl Nummer zwei der S 43 von Thonet. Der Entwurf geht auf Mart Stam zurück. Der Stuhl ist an Schlichtheit und Schönheit kaum zu schlagen. Lasse ich auch nur ein Element weg, habe ich keinen Stuhl mehr. Platz drei ist ein Stuhl, der aus verformtem Sperrholz ist. In der 1940er Jahren fing man an, Sperrholz zu verformen, um daraus Möbel zu bauen. Sperrholz sind ja Lagen von Furnierholz, die unglaublich stabil sind. Daraus kann man Stuhlbeine bauen, ebenso Sitzschalen, die ganz bequem sind und sich in alle Richtungen ver- formen. So sitzt man ganz komfortabel. Nummer drei ist deshalb der Stuhl 3107 von Arne Jacobsen. Nun haben Sie gerade den Stuhl 3107 des dänischen Designers Jacobsen genannt. Designklassiker Freischwinger: Der Entwurf S 43 von Thonet kombiniert Schlichtheit, Schönheit und Funktionalität. Foto: Thonet Sven Lapp Als Vorläufer dieses Stuhls und heute ebenfalls als Designklassiker gilt ja die 1952 von Jacobsen ent- worfene Ameise, ein Stuhl in Form einer Ameise mit erhobenem Kopf. Dieser Stuhl, der heute zu den bekanntesten Stühlen der Welt zählt, begeisterte die Menschen zunächst wenig. Was war der Grund? Sven Lapp: Auf diese Frage gibt es keine wissenschaftliche Antwort. Es ist aber so, dass die filigrane Formgebung erst einmal nicht das Vertrauen der Nutzer gefunden hat. Zu der Zeit, als die Ameise entwickelt wurde, hatten wir zum größten Teil Stühle mit Holzgestellen. Alles war deutlich größer und auch derber proportioniert. Bei der Ameise wirken die Metallbeine ebenso wie die Sitzschale extrem filigran – das hat die Menschen einfach nicht überzeugt. Sie hatten wenig Vertrauen in die Statik. Es war ein Design, das die Erwartungshaltung der damaligen Nutzer stark gefordert hat – gerade in der dreibeinigen Variante. Dann hat man aber gemerkt, dass der Stuhl einfach gut funktioniert. Das lag vor allem an dem geringen Gewicht. Hier hatte man einen ganz leichten Stuhl, der sich bequem von einem Raum in den anderen tragen ließ. Bequem, leicht, schön – so lässt sich dieser Stuhl beschreiben. Ist ein Designerstuhl ein perfekter Statement-Stuhl? Sven Lapp: Hier muss man differenzieren. Es gibt ein Grundstatement, wenn man überhaupt einen Klassiker zeigt oder besitzt. Dieses Grundstatement sehe ich darin, dass man die Verknüpfungen der Eigenschaften, die ich schon geschildert habe, zu schätzen weiß. Das Zweite ist: Einige Klassiker sind im gehobenen Preisbereich zu finden. Deshalb ist das Statement hier: Ich kann mir diesen Klassiker leisten. Das ist die reprä- sentative Seite. Nicht alle Klassiker müssen unbedingt hochpreisig sein, aber einige sind es. Und es ist auch das Zeigen einer gewissen Kultiviertheit. Man zeigt über diese Möbel, dass man sich für Design interessiert. Welche Stühle der neueren Generation haben Klassikerqualitäten? Sven Lapp: Hier fällt mir ein Entwurf von Wilkhahn in Bad Münder ein. Dieser Stuhl heißt Occo – entworfen vom Designduo Markus Jehs und Jürgen Laub. Der Stuhl hat eine Kunststoffschale und wird mit ganz vielen unterschiedlichen Gestellen angeboten. Alles ist möglich: Teile zu polstern oder rundherum zu polstern, Drehgestell, Vierbeine, Kufen. Im Markt der Stühle mit Kunststoffschalen, von denen man meint, alles gesehen zu haben und jede Form sei ausprobiert worden, ist dieser Stuhl durch seine besondere Geometrie der ausgesparten Rücken- und Seitenpartie wirklich neu. Er ist komfortabel, zeitlos und hat ein ausbalanciertes Preis-Leistungs-Verhältnis. Ein weiterer Stuhl mit Klassikerqualitäten ist der .03 des belgischen Möbeldesigners Maarten Van Severen. Der erste Maarten-Van-Severen-Stuhl, auf dem ich saß, war ultra-puristisch und aus MDF, einer Holzfaserplatte, gemacht. Er hatte eine sehr schöne Form, aber sitzen konnte man nicht auf ihm. Denn er war hart wie eine Kirchenbank. Erst in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Möbelhersteller Vitra hat man das Unmögliche möglich gemacht. Man hat das Design beibehalten, aber den Werkstoff geändert. Aus bretthartem MDF wurde Integralschaum. Zwar sah er weiter so aus, als könne man nicht auf ihm sitzen, aber das stimmte nicht. Denn Integralschaum ist nachgiebig. Der Stuhl ist klostermäßig schön geformt und dabei überraschend komfortabel – fast wie ein Polsterstuhl.