“Es gibt für jeden das passende Rad, man muss es nur finden.” Sabine Göttsche Marius Brandt: An der Stelle fällt mir ein toller Witz ein, von meiner Tochter, den sie sich im Kindergarten erzählen: Warum fährt ein Nilpferd kein Fahrrad? Es hat den Daumen zum Klingeln nicht. Was für mich bedeutet, dass auf die Details geachtet werden muss, um den Fahrspaß im Vordergrund zu halten. Meine Tochter ist jetzt dreieinhalb Jahre alt. Erst saß sie auf einem Laufrad und jetzt kann sie schon allein fahren. Auf dem Weg zur Kita kann ich neben ihr her joggen. So eine Mobilität auf dem Fahrrad macht auch frei und stärkt das Selbstbewusstsein. Das gilt für die kleinen Menschen genauso wie für die großen. Wer wegen kardiovaskulärer Erkrankungen auf das Fahren verzichten musste, hat heute durch die Pedelec und E-Bike wieder ganz andere Möglich- keiten, seinen Radius zu erweitern. Sabine Göttsche: Also wir haben auch Kunden, die würden sich ohne Fahrrad gar nicht mehr be- wegen können. Die wären nicht mehr in der Lage, so am Leben teilnehmen zu können. Beispiels- weise MS-Erkrankte fahren dann teilweise mit Elektrounterstützung, natürlich mit 3- oder 4-Rädern. Wenn die das nicht hätten, könnten sie fast gar nichts mehr machen. Sie haben es schwer an Krücken zu gehen, aber Fahrrad geht. Das ist eben das, was viele gar nicht wissen: Man kann sich lange auf dem Fahrrad bewegen. Mit wenig Kraft trotzdem noch vorankommen. Die machen ihre Einkäufe, die sind mobil, das könnten sie ohne Rad alles nicht. Dr. Ingo Arnold: Der Bewegungsrhythmus macht es: beugen, strecken, beugen, strecken. Scher- bewegungen sind für Knie und Hüfterkrankte un- angenehm. Die hat man beim Radfahren nicht. Deshalb sagen Hüftkranke immer: „Fahrradfahren geht gut, Laufen ist schwer.“ Sabine Göttsche: Ich selbst habe ein neues rechtes Knie. Das ist kein Problem, im Gegenteil: Dass ich immer mit dem Fahrrad unterwegs war, hat mich wieder mobiler gemacht. Dr. Ingo Arnold: Man kann die Pedale rückver- setzen, also asymmetrisch die Pedale versetzen, so kann die limitierte Bewegungsseite des Knies auch am Fahrradfahren teilnehmen, das wissen die wenigsten. Sabine Göttsche: Wer eine Knieoperation hinter sich hat, erfährt vieles in der Reha. Da macht man Spinning und sitzt auf dem Ergometer. Aber danach muss man sich erst mal wieder auf das Fahrrad trauen. Ich weiß noch, dass ich mir über- legte, mit welchem Bein ich absteige, was ich mache, wenn ich hinfalle … mittlerweile bin ich sogar wieder Ski gelaufen. Aber ich glaube, dass das Kniegelenk durchs Radfahren gut geschmiert wird und dass das wichtig ist. Dr. Ingo Arnold: Der Knorpel, oder überhaupt die Zellen im Knorpel, die leben von Belastung und Entlastung, immer dieser Wechsel, das ist wie ein Schwamm, der aufsaugt und wieder abgibt. Das ist beim Fahrradfahren halt ideal, man tut dem Knorpel auch Gutes, also im Grunde genommen ein totales Rundum-Paket. Marius Brandt: Definitiv, wobei ich da natürlich noch einen Punkt mit reinwerfen würde, bevor je- mand gar nicht unterwegs ist, bitte aufs Fahrrad. Nichtsdestotrotz darf man nicht vergessen, dass das Radfahren auch eine sitzende Position ist. Wer das Fahrrad als Transportmittel zur Arbeit und als Sportgerät in der Freizeit sieht und viel Zeit auf dem Fahrrad verbringt, sollte einer Disbalance vorbeugen. Als Physiotherapeut muss ich da die Empfehlung geben, auch die Gegenbewegung nicht zu vernachlässigen. Die Dosierung sowie das Maß macht die Gesundheit und einfach gesagt, auch einfach mal in die Streckung gehen. Im Stehen fahren? Marius Brandt (lacht): „Nein nicht ganz. Man könnte natürlich den Sattel abmontieren und würde definitiv mehr stehen. Aber tatsächlich geht es darum, dass eine gewisse Dosierung auch außerhalb des Fahrradfahrens mit reingebracht werden sollte. Aber da sprechen wir dann schon von dem Extremen, also das heißt, man verbringt dann schon viele Stunden auf dem Fahrrad, im Verhältnis, nichtsdestotrotz muss man nach oben hinsteuern. Sabine Göttsche: Fünf Tage die Woche am Com- puter, und am Wochenende muss dann mit dem Rennrad gefahren werden. Da übernehmen sich einige und können am Anfang der Woche gar 34 OBERNEULAND nicht mehr laufen. Die haben sich nichts Gutes getan. Da sollte man anders rangehen. Dr. Ingo Arnold: Also noch mal, da zügeln wir nicht. Da nehmen wir das Fahrradfahren als sol- ches nicht raus, weil es zu viele positive Aspekte hat. Es ist besser als viele andere Dinge in der Aktivierung, weil die Belastung für den Organis- mus relativ gering ist und das Positive überwiegt. Marius Brandt: Nicht als einziges Sportgerät! Dr. Ingo Arnold: Nein, wenn Radfahren das einzige an Bewegung ist, dann ist es zu wenig. Wenn es zu exzessiv betrieben wird, dann ist es zu einseitig und es kommt zu ungünstigen Verkür- zungen von weniger beanspruchten Muskel- gruppen. Da lautet die Empfehlung der Ortho- päden: Fahrrad ist prima, aber parallel sollte noch ein anderer Sport betrieben werden. Idealer- weise Ausdauer- neben dosiertem Krafttraining. Welche Fahrräder mögen die Oberneulander? Sabine Göttsche: Es ist ein Stadtteil, in dem ein Fahrrad leider nicht ganz so wertgeschätzt wird, wie in anderen Stadtteilen. In Findorff, Schwach- hausen oder im Viertel besitzen viele kein Auto und das Fahrrad ist das Fortbewegungsmittel. Das darf auch etwas kosten, muss aber in erster Linie zum Besitzer passen. Hier in Oberneuland kommt es mir oft so vor, dass es ein teures Statussymbol ist, das Auto ist das Fortbewegungsmittel. Oberneuland ist ein wunderschöner Stadtteil, eigentlich müsste jedes Kind mit dem Fahrrad zur Schule und zum Sport fahren können, auch Einkäufe könnte man eben- falls gut mit dem Fahrrad erledigen. Es ist einfach schade, dass die meisten das Auto bevorzugen. Junge Mädchen möchten Hollandräder, die Jungen stehen auf Fixies – das sind die Räder ohne alles, nur zwei Räder, Sattel, Bremse. Es wird inzwischen viel E-Rad gefahren, das macht auch Sinn, wenn man es wirklich nutzt. Vom ökologischen Fußabdruck her ist ein E-Rad erst mal Minus, wenn ich dann aber das Auto stehen lasse und fahre viele Kilometer damit, dann verkehrt sich das irgendwann in ein Plus, aber die Herstellung eines Fahrrades mit Akku und allem Drum und Dran ist schon umwelt- belastend und sehr energieintensiv. Wenn jemand so ein Fahrrad kauft, um in zwei Jahren 500 Kilo- meter zu fahren, dann ist es eigentlich schade drum. Wer 5.000 Kilometer fährt – das haben wir teilweise, auch ältere Herrschaften, die fahren mehrere Tausend Kilometer im Jahr – dann macht das Sinn. Dafür bleibt das Auto stehen, sie sind fitter und denen macht das Spaß.